„Kommt, helft mir!", rief Kasperl. „Wir müssen ihn wieder auswickeln!"
Sie packten das eine Ende des Feuerwehrschlauches und zogen daran.
Da begann sich der Herr Oberwachtmeister um die eigene Achse zu drehen wie eine Spindel – und je eifriger sie zogen, desto schneller drehte er sich.
„Sachte, sachte!", rief er. „Mir wird ganz schwindlig im Kopf, der Mensch ist kein Brummkreisel!"
Es dauerte eine Zeit lang, bis sie ihn fertig ausgewickelt hatten. Nun zeigte es sich, dass der arme Herr Dimpfelmoser nur noch mit Hemd und Unterhose bekleidet war. Alles Übrige hatte ihm Hotzenplotz ausgezogen und weggenommen, sogar die Strumpfsocken.
„Warum lasst ihr mich denn in diesem verdammten Eimer so lange stecken?"
Richtig, der Wassereimer! Den hatten sie ganz vergessen. Kasperl befreite Herrn Dimpfelmoser davon und Herr Dimpfelmoser holte ein paarmal tief Luft.
„Na endlich! Unter dem Ding bin ich halb erstickt!" Er rieb sich die Augen und blickte an sich hinunter. „Dieser Halunke! Er hat mir sogar die Hose geraubt! – Ich bitte Sie, Großmutter, gucken Sie weg!"
Großmutter nahm den Zwicker ab.
„Das ist besser als Weggucken", meinte sie. „Doch nun sagen Sie mal: Was, um alles in der Welt, ist hier eigentlich vorgefallen?"
Herr Dimpfelmoser hängte sich Kasperls Jacke um und setzte sich auf das Trittbrett des Feuerwehrautos.
„Hotzenplotz hat mich reingelegt", brummte er. „Kurz nach halb zwölf war es. Plötzlich – ich stehe wie immer um diese Zeit auf dem Marktplatz und sorge für Recht und Ordnung – ertönt aus dem Spritzenhaus lautes Wehgeschrei. ,Hilfe, Herr Oberwachtmeister, Hilfe! Ich hab eine Blinddarmverrenkung, ich muss zum Doktor! Kommen Sie, schnell, schnell, kommen Sie!' Ich renne natürlich sofort zum Spritzenhaus. ,Eine Blinddarmverrenkung', denke ich, ,darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen! Wie, wenn er daran eingeht?' Ich sperre das Tor auf und nichts wie hinein! Da bekomme ich unversehens, ich weiß nicht woher, einen Schlag auf den Kopf – und dann bin ich für eine Weile weg gewesen."
„Entsetzlich!", rief Großmutter. „Haarsträubend und entsetzlich! Ich sage ja, heutzutage muss man bei Räubern auf alles gefasst sein, selbst wenn sie sterbenskrank sind."
„Der war gar nicht sterbenskrank!", knurrte Herr Dimpfelmoser. „Er hat mir mit seiner Blinddarmverrenkung bloß etwas vorgeschwindelt, damit er mich auf den Kopf hauen konnte. Und wissen Sie was? Er hat es mit einer Feuerpatsche getan! Das hat er mir hinterher, als ich gefesselt aufwachte, selbst erzählt."
„Auch das noch!", rief Großmutter. „Dieser Mensch ist doch wirklich ein Ausbund an Unverschämtheit! Man muss ihn auf schnellstem Weg wieder einfangen und der gerechten Bestrafung zuführen, finden Sie das nicht auch?"
„Und ob ich das finde!"
Herr Dimpfelmoser sprang auf und schüttelte die geballten Fäuste.
„Ich werde es dem Halunken zeigen, zum Donnerwetter – und wenn er sich hinterm Mond verkriecht!"
Damit wollte er losstürmen und die Jagd nach dem Räuber Hotzenplotz aufnehmen. Seppel gelang es gerade noch rechtzeitig, ihn am Hemdenzipfel zu packen und festzuhalten.
„Nicht doch, Herr Oberwachtmeister!", rief er. „Vergessen Sie nicht, dass Sie keine Hose anhaben!"
Hotte hotte hü!
Kasperl und Seppel schlugen dem Oberwachtmeister vor, ihm die zweite Uniform aus der Wohnung zu holen – doch leider stellte es sich heraus, dass Herr Dimpfelmoser die zweite Uniform gestern früh in die Reinigungsanstalt gebracht hatte; und dort war ihm gesagt worden, er bekomme sie frühestens nächsten Mittwoch zurück, vielleicht auch erst Donnerstag oder Freitag.
„Schön", sagte Kasperl, „es muss ja nicht ausgerechnet die Uniform sein. Sie haben gewiss noch andere Anzüge."
„Eben nicht!", stöhnte der Herr Oberwachtmeister und gestand ihnen, dass er keinen anderen Anzug im Schrank habe, nicht einmal eine einzelne Hose. „Denn", sagte er, „wie ihr wisst, bin ich immer im Dienst und im Dienst trägt man Uniform."
Da war guter Rat teuer.
„Wissen Sie was?", meinte Kasperl nach einigem Grübeln. „Wir bringen Sie erst mal zu uns nach Hause, dort sind Sie am besten aufgehoben. Großmutter hat gewiss nichts dagegen – oder?"
Großmutter war mit allem einverstanden.
Kasperl und Seppel liehen sich bei der Gemüsefrau an der Ecke den Handwagen und ein leeres Gurkenfass. Es war nicht ganz einfach, Herrn Dimpfelmoser dazu zu bringen, dass er ins Fass stieg und sich darin nach Hause befördern ließ.
„Bin ich vielleicht eine saure Gurke?", schimpfte er. „Amtspersonen haben in einem solchen Fass nichts verloren!"
Zuletzt stieg er aber doch hinein, was wäre ihm denn auch anderes übrig geblieben? Kasperl und Seppel hoben den hölzernen Deckel aufs Gurkenfass, spannten sich vor den Handwagen und wollten losfahren.
„Wartet!", rief Großmutter. „Nicht so rasch, erst muss ich das Spritzenhaus abschließen! Hotzenplotz bringt es fertig und stiehlt uns auch noch das Feuerwehrauto, wenn wir nicht aufpassen!"
„Aber er hat doch den anderen Schlüssel – den von Herrn Dimpfelmoser! Damit kann er sowieso ins Spritzenhaus!"
„Trotzdem!", erwiderte Großmutter. „Ordnung muss sein, da hilft alles nichts!"
Kasperl und Seppel warteten, bis sie das Spritzenhaus zugesperrt hatte. Dann setzten sie sich mit dem Handwagen in Bewegung. Großmutter lief hinterdrein und schob. Die Leute, denen sie unterwegs begegneten, mussten den Eindruck haben, die drei hätten auf dem Gemüsemarkt ein Fass Gurken gekauft und schafften es nun nach Hause. Wären sie nahe genug herangekommen, so hätten sie freilich gehört, dass im Gurkenfass jemand saß, der unaufhörlich mit dumpfer Stimme vor sich hin schimpfte:
„O verflucht, ist das eine Luft hier drin! Ich werde mein
Lebtag nach sauren Gurken stinken, fürchte ich. Und so eng ist es hier! Ich bin nur noch ein einziger blauer Fleck. Au, meine Nase! O weh, meine linke Schulter! Ihr glaubt wohl, ich habe Gummiknochen und einen Wattekopf?"
Je länger die Fahrt dauerte, desto weniger wohl fühlte sich der Herr Oberwachtmeister im Gurkenfass; und je weniger wohl er sich fühlte, desto lauter schimpfte er.
Ein paarmal versuchte Großmutter ihm gut zuzureden.
„Still doch, Herr Oberwachtmeister, still doch! Was sollen die Leute denken?"
Als dies alles nichts half, stimmten Kasperl und Seppel ein Lied an:
„Hotte hotte hüh,
Klöße in der Brüh!
Willst du mit der Kutsche fahren,
darfst du nicht an Butter sparen,
spät und in der Frü-hü-hüüüh:
Hotte hotte hüh!"
Großmutter sang aus voller Kehle mit und es gelang ihnen, wenn auch mit einiger Mühe, Herrn Dimpfelmoser zu übertönen.
Es muß etwas geschehen
Großmutter hatte im Dachgeschoss ihres Häuschens ein kleines Zimmer mit schiefen Wänden und einem Gästebett. Dort brachten sie den Herrn Oberwachtmeister unter.
„Mögen Sie Baldriantee?", fragte Großmutter. „Baldriantee beruhigt die Nerven und wird Ihnen gut tun – nach allem, was Sie erlebt haben."
„Wenn ich ehrlich bin", sagte Herr Dimpfelmoser, „dann möchte ich lieber etwas zu essen. Was meinen Sie, wie mir der Magen knurrt!"
„Uns auch!", riefen Kasperl und Seppel. „Uns auch!"
Großmutter lief in die Küche und strich einen Haufen Butterbrote. Herr Dimpfelmoser, Kasperl und Seppel sorgten dafür, dass nichts übrig blieb. Großmutter konnte das nicht verstehen: Bei ihr schlug sich jede Aufregung auf den Magen und hinterher brachte sie stundenlang keinen Bissen hinunter.
Sie stellte Herrn Dimpfelmoser ein Kännchen Baldriantee ans Bett und erklärte, sie müsse nun in die Stadt gehen. Erstens habe sie einiges zu besorgen – „und zweitens", versprach sie ihm, „werde ich in der Reinigungsanstalt ein bisschen Dampf machen wegen Ihrer Uniform."
„O ja!", rief Herr Dimpfelmoser. „Die sollen sich ausnahmsweise einmal beeilen! – Und noch etwas könnten Sie für mich tun ..."
„Nämlich?"
„Bringen Sie mir von daheim ein Paar Schuhe und Strümpfe, den zweiten Helm und den anderen Säbel mit, den Paradesäbel, den ich normalerweise bloß sonntags trage! Frau Pfundsmichel, meine Zimmerwirtin, wird Ihnen alles geben. Und noch was, damit ich es nicht vergesse! Im Fahrradständer auf unserem Hof steht ein blaues Fahrrad mit roten Felgen. Ob Sie das auch noch mitbringen könnten? Es ist mein Dienstrad. Sowie ich die Uniform aus der Reinigungsanstalt zurückbekomme, radle ich damit los – und dann wird es nicht lange dauern, bis Hotzenplotz wieder im Loch sitzt, das schwöre ich Ihnen!"
„Gut", sagte Großmutter. „Also den Säbel, die Schuhe und Strümpfe, den Helm und das blaue Fahrrad."
„Und Bratwürste!", fügte Kasperl hinzu.
„Bratwürste?", fragte Großmutter.
„Ja", sagte Kasperl. „Vergiss nicht, dass heute Donnerstag ist! Bratwurst mit Sauerkraut könnte man ausnahmsweise auch einmal am Abend essen ..."
„Bratwurst mit Sauerkraut?" Großmutter schüttelte heftig den Kopf. „Solange der Räuber Hotzenplotz frei herumläuft, kommen mir keine Bratwürste mehr ins Haus. Und Sauerkraut auch nicht! Glaubt ihr, ich locke mir diesen Menschen ein zweites Mal auf den Hals? Einmal genügt!"
Dabei blieb sie und es gab nichts auf der ganzen Welt, was sie davon abbringen konnte.
Weil Kasperl und Seppel das wussten, versuchten sie gar nicht erst es ihr auszureden. Traurig gingen sie in den Garten. Sie setzten sich hinter dem Haus in die Sonne und überlegten.
Die Rechnung war einfach: Je schneller der Räuber Hotzenplotz hinter Schloss und Riegel kam, desto früher gab es bei Großmutter wieder Bratwurst mit Sauerkraut.
„Wollen wir eigentlich warten, bis Dimpfelmoser ihn fängt?", fragte Kasperl. „Es muss was geschehen, finde ich ..."
„Hast du schon einen Plan?", wollte Seppel wissen.
„Man müsste ihn einfach wieder ins Spritzenhaus locken, verstehst du ..."
„Fragt sich nur, wie!", meinte Seppel. „Mit Speck vielleicht – oder mit Bratwürsten?"
„Das ist alles Quatsch!", sagte Kasperl.
Er legte die Stirn in Falten und dachte nach. Er dachte an dies und jenes – und plötzlich fiel ihm die Essigflasche ein, die sie heut aus dem Stadtbach gefischt hatten.
„Ich hab's!", rief er. „Seppel, ich hab's! Wir bringen ihm eine Flaschenpost!"
„Eine Fla..."
„Eine Flaschenpost!"
„Und die schicken wir Hotzenplotz?"
„Du musst zuhören, wenn ich dir etwas sage: Wir bringen sie ihm – das macht einen großen Unterschied. Weißt du was, Seppel? Sei doch so gut und besorge mir im Papiergeschäft eine Stange Siegellack!"
„Siegellack?"
„Ja", sagte Kasperl. „Bei einer richtigen Flaschenpost ist der Siegellack fast noch wichtiger als die Flasche selbst."
Daheim ist daheim
Der Räuber Hotzenplotz freute sich bis in die letzten Bartstoppeln. Erstens war er seit heute Mittag wieder ein freier Mann und das war natürlich die Hauptsache; zweitens besaß er nun eine vollständige Polizeiuniform – ein Umstand, den er beruflich nach besten Kräften zu nutzen gedachte; und drittens, das musste er Kasperls Großmutter lassen, hatten ihm ihre Bratwürste und das Sauerkraut ganz verteufelt gut geschmeckt.
„Wenn es nun mit der Höhle auch noch klappt, kann ich wirklich zufrieden sein", dachte er.
Die Uniform des Herrn Oberwachtmeisters Dimpfelmoser passte ihm auf den Leib wie für ihn geschneidert. Die eigenen Sachen trug er zu einem Bündel verschnürt unterm linken Arm; in der Rechten schwenkte er den erbeuteten Säbel wie einen Spazierstock. Während er durch den Wald schritt, pfiff er laut und nicht immer ganz richtig sein Leib- und Magenlied:
„Lustig ist das Räuberleben
In dem grünen Wald, juchhei!
Da braucht niemand Acht zu geben
Auf die Polizei-zwei-drei!
Da braucht niemand Acht zu geben
Auf die Polizei!"
Weil er sich Zeit ließ, brauchte er nahezu anderthalb Stunden, bis er zu Hause ankam. Wie nicht anders erwartet, war der Eingang zu seiner Höhle mit Brettern zugenagelt. Am Türpfosten hing ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift:
Polizeilich vernagelte Räuberhöhle
Unbefügte Entnagelung strengstens verboten! Wer es dennoch tut, wird bestraft.
Die Ortspolizeibehörde
Dimpfelmoser
Oberwachtmeister
Hotzenplotz rieb sich augenzwinkernd die Hände.
„Bis hierher ist alles in schönster Ordnung. Mal sehen, ob wir auch weiter Glück haben ..."
Andere Räuber pflegen sich für den Fall, dass ihr Schlupfwinkel eines Tages entdeckt wird, Zweithöhlen anzulegen, in die sie dann ausweichen können. Nicht so der Räuber Hotzenplotz.
„Wozu eine Zweithöhle?", hatte er sich gefragt. „Die erste tut es genauso. Das Einzige, was man braucht, ist ein zweiter Zugang, den niemand kennt. Man muss es nur schlau genug anstellen, dann ist alles ganz einfach und bombensicher."
Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er von niemandem belauscht wurde, lief er zu einer einzelnen alten Eiche, die stand etwa zwanzig Schritte vom Eingang der Höhle entfernt und war innen hohl. Er stieg in die Öffnung und scharrte das Laub und die Rindenstücke beiseite, mit denen der Boden bedeckt war. Darunter kam eine starke, aus Eichenbrettern gezimmerte Tür zum Vorschein. Hotzenplotz holte aus einer Spalte des Baumstammes einen Schlüssel hervor, den kein Mensch dort vermutet hätte. Nun öffnete er die Falltür – und damit den Einstieg zu einem schmalen unterirdischen Gang.
Der Gang war genau zwanzig Schritte lang, dann stieß man auf eine Bretterwand. Hotzenplotz bückte sich, drückte auf einen verborgenen Knopf – und nun ließ sich die Bretterwand einfach beiseite schieben.
Grinsend betrat er die Räuberhöhle.
„Daheim ist daheim!", rief er. „Wie ich die Polizei kenne, wird sie mich überall suchen, bloß hier nicht. Schließlich ist meine Behausung ja amtlich zugenagelt!"
Er knallte das Bündel mit seinen Sachen in eine Ecke und blickte sich in der Höhle um. Schränke und Truhen waren geöffnet, der Inhalt lag auf dem Fußboden. Alles war durcheinander geworfen: Wäsche und Küchengerät, der Hausrock, die Kaffeekanne, der Stiefelknecht, eine Schachtel mit Schnurrbartwichse, das Schuhputzzeug, Streichhölzer, Schürhaken, Feuerzange und Nudelbrett, ein Paar Hosenträger, mehrere Päckchen Schnupftabak, eine Ofengabel, die Spiritusflasche und hundert andere Dinge.