„So, den hätten wir! – Und was nun?"
„Nun die Uniform aus und den Schlauch her!"
Der Gefangene lag auf der Nase und rührte sich nicht. Kasperl zog ihm mit Seppels Hilfe die Uniform aus. Nebst Schuhen und Strumpfsocken, wie sich von selbst versteht. Dann wickelten sie ihn von unten bis oben in einen Feuerwehrschlauch und stülpten ihm einen leeren Wassereimer über den Kopf.
„Er soll es um kein Haar besser haben als Oberwachtmeister Dimpfelmoser!", erklärte Kasperl; und Seppel meinte: „Gewiss nicht!"
Das Spritzenhaustor stand offen, der Mond schien herein und leuchtete ihnen. Kasperl und Seppel zerrten ihren Gefangenen in die hinterste Ecke des Raumes, genau an die gleiche Stelle zwischen der Wand und dem Feuerwehrauto, wo auch Herr Dimpfelmoser gelegen hatte.
„Von allein kommt er hier nicht weg", meinte Kasperl. „Ich sause jetzt mit den gestohlenen Sachen nach Hause und du bleibst als Wache hier."
„Gut", sagte Seppel. „Ich halte für alle Fälle die Feuerpatsche bereit – und wenn Hotzenplotz den Versuch macht ..."
An dieser Stelle wurde er mitten im Satz unterbrochen: Irgendwer hatte das Tor des Spritzenhauses von außen zugeknallt. Nun standen die beiden wieder im Finstern. Sie hörten den Schlüssel im Schloss knacken, einmal und noch einmal.
„Heda!", rief Kasperl. „Was soll das? Hier sind ja Leute drin!" Er schlug mit den Fäusten ans Tor, er trat mit den Füßen dagegen. „Aufsperren! Aufsperren!"
Als Antwort ertönte vom Gitterfenster herab ein dröhnendes Lachen. Die Freunde fuhren herum. In der Fensteröffnung erblickten sie einen behelmten Kopf, der sich deutlich vom hellen Nachthimmel abhob. Noch einen!
„Na, ihr zwei Flaschenpostler?"
Kasperl und Seppel kamen sich vor wie in einem bösen Traum. War das Hotzenplotz, dort am Fenster? Aber den hatten sie doch gerade erst in den Feuerwehrschlauch gewickelt ...
„Damit habt ihr wohl nicht gerechnet, wie?"
Es war tatsächlich Hotzenplotz! Diese Stimme gab es kein zweites Mal.
„Wenn ihr mich reinlegen wollt, müsst ihr's schlauer anstel-
len! Ich bin schließlich nicht blöd. Ich bin ein gelernter Räuber – und ihr seid geborene Hornochsen, hö-hö-hö-höööh!"
Kasperl und Seppel verstanden die Welt nicht mehr.
„Aber w-wir h-haben Sie ...", stammelte Seppel. „W-wir h-haben Sie doch gerade erst m-mit der F-feuerpatsche ... Und dann..."
„Dann haben wir Sie in den Schlauch gewickelt!", rief Kasperl.
„Mich?", widersprach ihm Hotzenplotz. „Mich gewiss nicht! Ich lasse mich nämlich nicht einwickeln, merkt euch das, von euch beiden schon gar nicht! Am besten, ihr schlaft jetzt und lasst euch was Hübsches träumen – meinetwegen von einem vergrabenen Schatz in einem gewissen Spritzenhaus – oder von Kasperls Großmutter ..."
„Lassen Sie Großmutter aus dem Spiel!", rief Kasperl entrüstet.
„Im Gegenteil!", sagte der Räuber Hotzenplotz. „Mit Großmutter habe ich eine Menge vor. Das Spiel mit ihr soll erst richtig losgehen, hö-hö-hö-höööh!"
Ein Mann mit Herz
Hotzenplotz prüfte nach, ob das Spritzenhaus gut verschlossen war; dann schwang er sich auf Herrn Dimpfelmosers Fahrrad und während Kasperl und Seppel um Hilfe riefen (aber um diese Zeit war das völlig zwecklos, da alle Leute im Städtchen schliefen und niemand sie hören konnte), radelte er durch die stillen Straßen zum Häuschen von Kasperls Großmutter.
Großmutter war noch wach.
Sie vertrieb sich die Zeit mit Stricken: zwei glatt, zwei verkehrt – zwei glatt, zwei verkehrt ...
Hotzenplotz spähte durchs Fenster. Er ließ sie die Nadel zu Ende stricken, dann klopfte er an die Scheibe.
„Pscht! Großmutter!"
Großmutter legte den Strickstrumpf weg.
„Ist da wer?"
„Ja", sagte Hotzenplotz leise und mit verstellter Stimme. „Kommen Sie, ich bin's!"
„Ach, Sie sind das!" Großmutter hielt ihn für Oberwachtmeister Dimpfelmoser. „Warum schon zurück – und wo haben Sie Kasperl und Seppel?"
„Die warten im Spritzenhaus", flüsterte Hotzenplotz.
„Mit dem Gefangenen?"
„Mit dem Gefangenen."
„Dann hat also alles geklappt?"
„Wie am Schnürchen."
„Na, wundervoll! Wollen Sie denn nicht reinkommen?"
„Kommen Sie lieber raus", sagte Hotzenplotz. „Und vergessen Sie nicht den Hut aufzusetzen. Es kann etwas länger dauern, ich werde Sie Hotzenplotz gegenüberstellen. Sie haben doch keine Angst vor ihm?"
„Wenn Sie dabei sind, Herr Oberwachtmeister – dann gewiss nicht!"
Großmutter setzte den schwarzen Hut mit der grauen Borte auf, nahm für alle Fälle ein warmes Wolltuch um und eilte hinaus. Hotzenplotz salutierte.
Da er den Mond im Rücken hatte brauchte er nicht zu fürchten, dass Großmutter ihn erkannte.
„Ich bin mit dem Fahrrad gekommen", flüsterte er. „Das geht schneller und außerdem ist es bequemer für Sie."
Großmutter legte die Hand ans Ohr.
„Ich verstehe Sie kaum, Herr Oberwachtmeister. Sprechen Sie doch ein wenig lauter!"
„Bedaure", erwiderte Hotzenplotz, ebenso leise wie vorhin. „Es ist wegen der Nachbarschaft, Sie verstehen. Die Nachtruhe meiner verehrten Mitbürger ist mir heilig."
„Das haben Sie schön gesagt", meinte Großmutter. „Daran merke ich, dass Sie ein Mann mit Herz sind. Ein Hotzenplotz würde das niemals sagen!"
Rollsplitt
In der Uniform des Herrn Polizeioberwachtmeisters Alois Dimpfelmoser radelte der Räuber Hotzenplotz mit Kasperls Großmutter auf dem gestohlenen Dienstfahrrad durch das schlummernde Städtchen.
Großmutter saß im Damensitz auf dem Gepäckträger und hielt sich mit beiden Händen am Sattel fest. Anfangs war sie ein wenig ängstlich gewesen, doch allmählich begann ihr das Radfahren Spaß zu machen.
„Stellen Sie sich vor", kicherte sie, „dies ist in meinem ganzen Leben das erste Mal, dass ich auf einem Fahrrad sitze! Als ich ein junges Mädchen war, gab es noch keine Fahrräder, wissen Sie; und in späteren Jahren hatte ich keine Gelegenheit mehr dazu. Ich glaube, Sie haben mich auf den Geschmack gebracht. Ob ich mir auf die alten Tage ein Fahrrad anschaffen sollte – was meinen Sie?"
Hotzenplotz brummte etwas wie „gute Idee" und „das finde ich ausgezeichnet"; aber im Stillen dachte er: „Hoffentlich geht das noch eine Weile glatt mit ihr ..."
Spätestens an der nächsten Kreuzung musste selbst Großmutter merken, dass sie in die falsche Richtung radelten. Aber ein richtiger Räuber weiß sich in jeder Lage zu helfen.
„Vorsicht, Großmutter!", zischte er. „Hier beginnt eine Baustelle, da liegt Rollsplitt – der spritzt einem ins Gesicht, wenn man drüberradelt. Am besten, Sie nehmen für eine Weile den Zwicker runter und machen die Augen zu. Haben Sie mich verstanden?"
„Danke – zu liebenswürdig!"
Großmutter nahm den Zwicker von der Nase und schloss die Augen. Sie sah sich im Geist als stolze Besitzerin eines Fahrrades durch das Städtchen flitzen; und alle Leute, die ihr auf der Straße begegneten, blickten ihr voll Bewunderung nach.
Solche und andere angenehme Gedanken hinderten sie freilich nicht daran, sich von Zeit zu Zeit zu erkundigen, ob denn die Baustelle immer noch nicht zu Ende sei.
„Leider nein!", pflegte Hotzenplotz dann zu antworten.
„Sie tun gut daran, wenn Sie den Zwicker noch eine Weile unten lassen. Mit Rollsplitt ist nicht zu spaßen."
So kam es, dass Großmutter viel zu spät merkte, was da mit ihr gespielt wurde. Als sie Verdacht schöpfte und den Zwicker aufsetzte, lagen die letzten Häuser des Städtchens schon weit hinter ihnen und eben bog Hotzenplotz von der Landstraße ab, in den Wald hinein.
„Heda!", rief Großmutter. „Wohin fahren Sie uns denn da, Herr Oberwachtmeister. Warum radeln wir nicht zum Spritzenhaus?"
„Darum!", sagte der Räuber Hotzenplotz barsch.
Er sagte es laut und mit seiner gewohnten Stimme. Großmutter merkte gleich, dass da etwas faul war.
„Hören Sie mal, Sie da vorn!", rief sie. „Sind Sie womöglich gar nicht der Herr Polizeioberwachtmeister Dimpfelmoser?"
Hotzenplotz radelte lachend weiter.
„Das haben Sie reichlich spät gemerkt", meinte er. „Raten Sie mal, wer ich wirklich bin, hö-hö-hö-höööh!"
Großmutter war empört.
„Ich kenne nur einen Menschen im ganzen Landkreis, dem ich ein solches Schurkenstück zutraue", rief sie – „und das sind Sie! Was haben Sie eigentlich mit mir vor?"
„Ich entführe Sie."
„Dass ich nicht lache! Ich werde um Hilfe schreien! – Hilfe! Zu Hiiilfeee! Man will mich entführen! Rettet mich! Rettet miiiiich!"
„Schreien Sie ruhig, so lang Sie wollen", meinte der Räuber Hotzenplotz, „hier im Wald hört Sie doch keiner. Alles, was Sie mit Ihrem Gebrüll erreichen, ist, dass Sie Halsweh kriegen."
Damit hatte er leider Recht. Großmutter schluchzte ein paarmal und sagte mit tränenerstickter Stimme:
„Schämen Sie sich, Herr Hotzenplotz! Als hilflose alte Dame erwarte ich, dass Sie mich auf der Stelle nach Hause zurückbringen und sich bei mir entschuldigen."
Hotzenplotz lachte schallend.
„Na schön", sagte Großmutter. „Wenn Sie mich nicht zurückbringen, werde ich eben vom Rad springen und davonlaufen."
„Bitte sehr!", brummte Hotzenplotz. „Erstens ist das in Ihrem Alter nicht ungefährlich und zweitens würden Sie nicht weit kommen."
Auch damit hatte er leider Recht.
„Ich sehe schon", dachte Großmutter, „dass mir nichts anderes übrig bleibt, als ihm die Fahrradpumpe über den Kopf zu hauen."
Die Fahrradpumpe war vom Gepäckträger aus bequem zu erreichen. Schon schwang sie sie in der Hand, schon haute sie damit zu.
Der dumpfe Krach tat ihr in der Seele weh – doch Hotzenplotz radelte weiter, als ob überhaupt nichts geschehen sei.
„Tun Sie sich keinen Zwang an, Großmutter", sagte er. „Bloß – vergessen Sie nicht, dass ich einen Helm auf dem Kopf trage. Einen Polizeihelm."
Da sah Großmutter ein, dass es keinen Sinn hatte, irgendetwas zu unternehmen und sie beschloss die Fahrradpumpe in hohem Bogen wegzuwerfen; aber dann musste sie daran denken, dass die Pumpe ja eigentlich dem Herrn Oberwachtmeister Dimpfelmoser gehörte und da tat sie es lieber doch nicht.
Im Rückwärtsgang
Kasperl und Seppel hatten ihren Gefangenen wieder ausgewickelt. Der arme Herr Dimpfelmoser tat ihnen schrecklich Leid. Sie halfen ihm in die Uniform und beteuerten mehr als ein Dutzend Mal, wie sehr sie das Missverständnis bedauerten, dem er zum Opfer gefallen war.
„Eigentlich", meinte Kasperl nachdenklich, „ist an der ganzen Bescherung die Reinigungsanstalt schuld. Wer konnte denn ahnen, dass es so schnell gehen würde mit Ihrer Uniform?"
„Tja", brummte Oberwachtmeister Dimpfelmoser, „zum Großteil besteht das Leben eben aus Überraschungen. Dieser Hotzenplotz hat mehr Glück als Verstand! Ich muss sagen, ihr habt mich ganz schön zusammengepatscht ... Na, Schwamm drüber! Suchen wir uns ein halbwegs bequemes Plätzchen und legen wir uns aufs Ohr. Morgen früh wird schon jemand kommen und uns hier rauslassen."
„Morgen früh?", widersprach ihm Kasperl. „So lang können wir nicht warten!"
„Wieso denn nicht?"
„Wegen Großmutter", sagte Seppel. „Hotzenplotz hat etwas mit ihr vor, er hat es uns selbst verraten."
„Und drum", drängte Kasperl, „dürfen wir keine Zeit verlieren, wir müssen hier raus!"
Herr Dimpfelmoser sah das natürlich ein. Sie rüttelten mit vereinten Kräften am Tor, sie versuchten die Gitterstäbe des Fensters herauszubrechen, sie klopften die Wände nach dünnen Stellen ab – alles umsonst.
„Und wenn wir uns unter der Schwelle durchgraben?", meinte Seppel. „Ich habe da nämlich etwas entdeckt ..."
Er brachte aus einer Ecke des Spritzenhauses zwei Schaufeln und eine Spitzhacke angeschleppt.
„Damit müssten wir's eigentlich schaffen!"
Es zeigte sich, dass die Arbeit nicht einfach war. Hotzenplotz schien gewusst zu haben, weshalb er von diesem Weg in die Freiheit keinen Gebrauch gemacht hatte. Der Boden des Spritzenhauses war hart wie Stein und der Platz zwischen Tor und Feuerwehrauto so eng, dass immer nur einer graben konnte. Aber selbst der hatte Schwierigkeiten, weil er bei jeder Bewegung irgendwo anstieß.
„Wie wäre es", meinte Herr Dimpfelmoser nach einer Weile, „wenn wir das Auto ein Stück zurücksetzten? Wir haben da hinten mindestens einen Meter Platz!"
„Wenn das geht?", sagte Kasperl. „Ich fürchte, das Ding ist zu schwer für uns."
„Zu schwer?" Der Oberwachtmeister lachte. „Vergiss nicht, dass jedes Auto einen Motor hat. Und einen Rückwärtsgang."
„Und – der Zündschlüssel?", fragte Seppel.
„Wozu einen Zündschlüssel?", meinte Herr Dimpfelmoser. „Wir machen es mit der Handkurbel! Die liegt griffbereit unterm Fahrersitz, wo sie immer liegt. Bereit sein ist alles, versteht ihr – speziell bei der Feuerwehr!"
Er schnallte den Säbel ab, kletterte auf den Wagen und setzte sich hinter das Lenkrad. Dann reichte er ihnen die Kurbel hinunter.
„So, es kann losgehen!"
Kasperl und Seppel gaben sich große Mühe das Feuerwehrauto anzukurbeln. Sie kurbelten einmal, sie kurbelten zweimal. Beim vierten Mal stießen sie mit den Köpfen zusammen, beim sechsten Mal schnappte die Kurbel zurück und traf Seppel am linken Daumen.
„Nicht aufgeben!", feuerte sie Herr Dimpfelmoser an. „Ich glaube fast, ihr habt Zwetschgenmus in den Armen!"
Zwetschgenmus ?
Kasperl und Seppel bissen die Zähne zusammen und kurbelten weiter. Beim zwölften Mal klappte es dann. Mit lautem Gedröhn sprang der Wagen an. Herr Dimpfelmoser legte den Rückwärtsgang ein und gab Gas.
Das Feuerwehrauto rührte sich nicht von der Stelle.
„Die Handbremse!", riefen Kasperl und Seppel.
„Waaas?", rief Herr Dimpfelmoser zurück. „Ich kann nichts verstehen bei diesem Krach!"
„Die Haaand-breeem-seee!"
Endlich hatte Herr Dimpfelmoser begriffen. Er löste die Handbremse – und im nächsten Augenblick machte das Feuerwehrauto einen gewaltigen Satz: einen Satz nach hinten.
Rums – bums – pardauz! Das Spritzenhaus bebte und zitterte. Mit einem Mal hatten Kasperl und Seppel die Augen voll Staub und den Mund voll Sand. Blitzschnell warfen sie sich zu Boden. Kasperl fiel mit der Nase in eine Ölpfütze, Seppel verlor den Hut und stieß mit dem Kopf gegen einen Mauerstein.
Plötzlich war es im Spritzenhaus wieder still. Herr Dimpfelmoser hatte den Motor abgewürgt.